„Sklaven für den Endsieg“: Rede von Marco Brenneisen am 1.11.2021
3. November 2021
Im Folgenden dokumentieren wir die Rede „Sklaven für den Endsieg. Die Allgegenwart ausländischer Zwangsarbeiter*innen in der Rhein-Neckar-Region“, die Marco Brenneisen, der wissenschaftliche Leiter der KZ-Gedenkstätte Mannheim-Sandhofen, beim Gedenken am 1. November 2021 auf dem Heidelberger Bergfriedhof hielt.
Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Genossinnen und Genossen,
mehr als 12 Millionen Menschen wurden während des Zweiten Weltkriegs aus ganz Europa nach Deutschland verschleppt und hier zur Zwangsarbeit eingesetzt. Allein im Sommer 1944 arbeiteten neben 6 Millionen zivilen Arbeitskräften (den sogenannten Fremdarbeitern) zwei Millionen Kriegsgefangene und über eine halbe Million KZ-Häftlinge im Deutschen Reich.
Ohne den millionenfachen Einsatz von Zwangsarbeiter*innen – in der Industrie, in der Landwirtschaft, in den Kommunen und in Handwerksbetrieben – wäre weder die Versorgung der Bevölkerung während des Krieges noch die Rüstungsproduktion möglich gewesen. In deutschen Industriebetrieben bildeten Zwangsarbeiter*innen mehr als ein Viertel der Belegschaft, in manchen Bereichen sogar bis zu 60%.
Es ist eine nach 1945 tradierte Mär, dass Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter fast ausschließlich in Großkonzernen und der Landwirtschaft eingesetzt worden seien und die deutsche Zivilbevölkerung davon kaum etwas habe mitbekommen können. Spätestens ab 1943 gehörte der Einsatz ausländischer Arbeiter*innen zum Kriegsalltag in Deutschland, die nach Deutschland Verschleppten waren im Alltag der Bevölkerung omnipräsent – sei es an den Arbeitsstätten, im Straßenbild der Städte und Dörfer oder aufgrund der Lager und Unterkünfte, die selbst in den entlegensten Landstrichen wie Pilze aus dem Boden schossen.
So auch in der Rhein-Neckar-Region, wo in allen Städten und den meisten Gemeinden Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ausgebeutet wurden. Besonders hoch war ihre Zahl in den Industriestädten Ludwigshafen und Mannheim. Schätzungsweise 50.000 Menschen aus 23 Ländern wurden zwischen 1939 und 1945 allein nach Ludwigshafen verschleppt, davon mussten mehr als 30.000 sogenannte Fremdarbeiterinnen und Fremdarbeiter sowie Kriegsgefangene für die IG Farben (BASF) Zwangsarbeit leisten. Zwischen 30.000 und 40.000 Zwangsarbeiter*innen waren es in Mannheim, darunter mehr als 1.000 polnische KZ-Häftlinge im Stadtteil Sandhofen, wo 1944 ein Außenlager des Konzentrationslagers Natzweiler errichtet wurde. Mehr als 300 Mannheimer Firmen, Betriebe und städtische Einrichtungen waren in die Zwangsarbeit involviert.
Wenngleich Heidelberg aus kriegswirtschaftlicher Sicht eine eher geringe Rolle spielte, waren zwischen 1939 und 1945 auch hier insgesamt 12- bis 15.000 Menschen zur Zwangsarbeit eingesetzt. Zu den rund 150 „Arbeitgebern“ (in Anführungszeichen) zählten Industriebetriebe wie die Waggonfabrik Fuchs, die Heidelberger Schnellpressenfabrik, die Bremsenfabrik August Grau oder die Mannheimer Unternehmen BBC und Bopp & Reuther, unzählige Handwerksbetriebe, landwirtschaftliche Betriebe und Ortsbauernschaften, die Reichsbahn, aber auch Gaststätten, Einzelhändler, medizinische Einrichtungen und die Universität. Die meisten Zwangsarbeiter*innen setzte allerdings die Stadt Heidelberg selbst ein. Wie Alice Habersack in ihrer umfassenden Studie „Fremdarbeiter in Heidelberg während des Zweiten Weltkriegs“ ermitteln konnte, wurden etwa 36 % aller hierher verschleppten Menschen zur Zwangsarbeit in den Stadtwerken, im Forstamt, im Schlachthof, beim Tiefbau und anderen städtischen Einrichtungen herangezogen. Zudem wurden Zwangsarbeiter zum Bunkerbau eingesetzt; wenn auch in weitaus geringerer Zahl als in Mannheim, wo Tausende ausländische Arbeitskräfte Luftschutzbunker bauen mussten, die sie bei alliierten Luftangriffen in der Regel selbst nicht nutzen durften.
Fast 60 % der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Heidelberg stammten aus Frankreich und der Sowjetunion, mehr als 11 % aus Polen; rund 16% aus den Niederlanden, Italien, Belgien und Jugoslawien, die restlichen rund 13% aus anderen von Deutschland besetzten Ländern. Für Mannheim ergibt sich ein ähnliches Bild, wenngleich dort der Anteil italienischer Zwangsarbeiter höher war.
Anders als oft angenommen, war Zwangsarbeit kein männliches Phänomen. Der Frauenanteil war unter den zivilen Zwangsarbeiter*innen, insbesondere aus Polen und Osteuropa, besonders hoch. Auch hierzu liefert Habersack konkrete Zahlen zu Heidelberg: Während ein Viertel der französischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter Frauen waren, waren es unter den polnischen Verschleppten die Hälfte. Von den aus der Sowjetunion stammenden sogenannten Ostarbeiterinnen und Ostarbeitern machten Frauen 43 % aus.
Betont werden muss außerdem das oft junge Alter der zivilen Zwangsarbeiter*innen. Im Zuge der Massenverschleppungen aus Polen und Osteuropa brachten die Nationalsozialisten häufig ganze Familien nach Deutschland. Mit Ausnahme von Kindern unter 10 Jahren wurden auch viele Jugendliche in deutschen Firmen und in der Landwirtschaft ausgebeutet. Exemplarisch sei hier für die Rhein-Neckar-Region die Mannheimer Firma Fulmina genannt, wo sich für den Zeitraum von 1942 bis 1945 der Einsatz von 42 sogenannten Ostarbeiterinnen aus Russland und der Ukraine nachweisen lässt. Der Altersdurchschnitt lag hier bei 18 Jahren; die Jüngsten waren erst 14 Jahre alt. In Heidelberg waren mindestens 218 Zwangsarbeiter*innen jünger als 18 Jahre.
Die Lebensbedingungen der Zwangsarbeiter*innen waren je nach Nation, rechtlichem Status und Geschlecht unterschiedlich. Dies betraf die Unterbringung und die hygienischen Bedingungen ebenso wie die Verpflegung, Entlohnung, medizinische Fürsorge und die für sie geltenden Vorschriften und Verbote. Auch in unserer Region wurden unzählige kleinere und größere Barackenlager errichtet, andere Zwangsarbeiter*innen wurden direkt in den Gebäuden der Firmen und Betrieb sowie auf Bauernhöfen und in Gaststätten untergebracht. Meist – wenn auch nicht immer – waren die Existenzbedingungen für west- und nordeuropäische Zwangsverschleppte besser als für die als „slawische Untermenschen“ stigmatisierten osteuropäischen Fremdarbeiterinnen und Fremdarbeiter bzw. Kriegsgefangenen. Zivilarbeiter*innen aus der Sowjetunion und aus Polen waren durch rassistische Sondererlasse der Willkür der Gestapo, der Polizei und kommunaler Behörden schutzlos ausgeliefert. Sie durften ihre Lager oft nur zur Arbeit verlassen und mussten entsprechende Kennzeichen auf der Kleidung tragen. Sie mussten Beleidigungen, Anfeindungen, Denunziationen und Misshandlungen – auch durch die deutsche Zivilbevölkerung – erleiden und ihre Verpflegung reichte gerade so zum Überleben. Doch auch die sogenannten italienischen Militärinternierten, wie die aus Italien stammenden Fremdarbeiter*innen nach dem Kriegsaustritt des deutschen Bündnispartners im Herbst 1943 bezeichnet wurden, waren besonderen Schikanen ausgesetzt und wurden als vermeintliche Verräter miserabel behandelt. Am dramatischsten waren die Lebensbedingungen der KZ-Häftlinge, die – wie im KZ Sandhofen – keinerlei Rechte besaßen und aufgrund von Mangelernährung, hygienischen und medizinischen Missständen, unzureichender Kleidung und der Gewalt der SS-Wachmannschaften ums tägliche Überleben kämpfen mussten.
Die zivilen Zwangsarbeiter*innen sowie die Kriegsgefangenen wurden durch einen rassistisch-bürokratischen Repressions- und Kontrollapparat aus Wehrmacht, Arbeitsamt, Werkschutz, Polizei und den Betrieben streng überwacht. Sie mussten täglich 12 Stunden arbeiten. In den Lager- und Betriebskantinen wurden sie nur äußerst unzureichend verpflegt; ohne Lebensmittelkarten konnten sie von ihrem geringen Lohn nichts zu essen kaufen und litten ebenfalls ständig Hunger. Vielfach führte die Mangelernährung zu einer rapiden Verschlechterung des Gesundheitszustands, zu Hungerödemen und dem Zusammenbruch des Immunsystems, durch den Infektionskrankheiten wie Fleckfieber, die aufgrund der miserablen hygienischen Bedingungen schnell auftraten, lebensgefährlich wurden. Zahlreiche Zwangsarbeiter*innen litten außerdem unter Tuberkulose und anderen Lungenerkrankungen.
Viele Zivilarbeiter*innen versuchten, durch Tauschgeschäfte, Arbeiten in deutschen Privathaushalten oder kleinere Diebstähle an zusätzliche Lebensmittel zu gelangen, um ihre Situation zu verbessern. Diebstähle, Plünderungen und andere (vermeintliche) Vergehen, wie etwa Arbeitsverweigerung oder sogenannte Bummelei wurden jedoch hart bestraft. Mit Misshandlungen, Einweisung in Arbeitserziehungslager oder Konzentrationslager, oder aber mit dem Tod. So etwa in Heidelberg-Rohrbach, wo am 28. August 1944 fünf russische und ukrainische Ostarbeiter der Fuchs Waggonfabrik AG hingerichtet wurden, nachdem sie nach einem Luftangriff Lebensmittel aus einem Güterzug entwendet hatten. Seit 2015 erinnert ein Mahnmal auf dem ehemaligen Firmengelände an die jungen Männer, die zwischen 19 und 21 Jahre alt waren. In Mannheim-Seckenheim plünderten mehrere Dutzend deutsche Zivilist*innen sowie einige ausländische Zivilarbeiter Ende März 1945, kurz vor dem Eintreffen der Amerikaner in der Stadt, Lebensmittel aus den zu Hunderten am Rangierbahnhof abgestellten Zügen. Im Falle der deutschen Plünderer wurde dies von den anwesenden Feldpolizisten geduldet; 18 Zwangsarbeiter aus Frankreich, der Sowjetunion und Polen wurden dagegen in eine Scheune gebracht und sofort erschossen.
Dass an dieses sogenannte Endphaseverbrechen erst seit letztem Jahr ein kleines Mahnmal in Seckenheim erinnert, ist bezeichnend. Denn nach Kriegsende verschwanden die ausländischen Arbeitskräfte rasch aus dem Bewusstsein der Deutschen und blieben dies im Allgemeinen bis in die 1980er Jahre. Ebenso wenig wie die deutsche Mehrheitsbevölkerung während des Krieges Anteil am Leiden der Zwangsarbeiter*innen nahm, interessierte man sich nach der bedingungslosen Kapitulation Nazi-Deutschlands um die Millionen überlebender Ausländer*innen, die häufig noch Monate, wenn nicht gar Jahre als sogenannte Displaced Persons weiter in Lagern leben mussten oder in von den Alliierten betreuten Krankenhäusern und Sanatorien verbrachten, bevor sie in ihre Herkunftsländer zurückkehren konnten. Insbesondere die polnischen und osteuropäischen Überlebenden verschwanden bald hinter dem „Eisernen Vorhang“ und hatten in Zeiten des Kalten Kriegs kaum die Möglichkeit, sich in Deutschland Gehör zu verschaffen, was die Anerkennung des ihnen zugefügten Unrechts und die Zahlung von Entschädigungsleistungen angeht.
Bis in die Gegenwart wird der Einsatz vor allem der zivilen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter häufig verharmlost und als normale Begleiterscheinung des Krieges angesehen – meist mit dem Hinweis darauf, dass es der deutschen Bevölkerung im Krieg ebenfalls nicht gut gegangen sei und auch sie schwer hätten arbeiten müssen. Insbesondere der Zwangsarbeitereinsatz in der Landwirtschaft wird noch heute von vielen deutschen Zeitzeug*innen als eine Art Erholungsurlaub dargestellt, da es den russischen, ukrainischen und polnischen Verschleppten in ihrer ärmlichen, kommunistischen Heimat sicher nicht besser ergangen sei.
Auch die geschichtswissenschaftliche Forschung interessierte sich Jahrzehntelang kaum für die zivilen Zwangsarbeiter*innen, ehe Ulrich Herbert 1985 seine bis heute als Standardwerk geltende Fremdarbeiter-Studie veröffentlichte.
Und auch die deutschen Regierungen nach 1945 sowie die von dem Zwangsarbeitseinsatz profitierenden Unternehmen, Firmen, Betriebe und Kommunen lehnten – von wenigen Ausnahmen abgesehen – lange Zeit jegliche Verantwortungsübernahme ab und verweigerten Entschädigungs- und Rentenzahlungen. Nur ein Bruchteil der einstigen zivilen Zwangsarbeiter*innen hat je eine Zahlung erhalten – und dies meist in einer lächerlich geringen Höhe.
Und dies, obwohl, oder gerade weil, die Ausbeutung ausländischer Arbeitskräfte im Nationalsozialismus die Grundlage für das spätere sogenannte Wirtschaftswunder in der Bundesrepublik gebildet hatte. Durch den millionenfachen, billigen Einsatz von Zwangsarbeiter*innen wurden zahlreiche Betriebe modernisiert. Er ermöglichte erst die Durchsetzung neuer Produktionsweisen wie der Massenproduktion mit hoher Stückzahl und stark getakteten Arbeitsabläufen. Diese Ausbeutung, die damit erwirtschafteten Gewinne vor allem der Großkonzerne sowie die äußerst geringen Reparationsverpflichtungen erlaubten es den deutschen Unternehmen, schon bald nach Kriegsende wieder eine konkurrenzfähige Produktion aufzubauen. Vor allem die deutsche Automobilindustrie sei hier exemplarisch genannt.
Während Deutschland, das halb Europa in Schutt und Asche gelegt und Millionen Menschen verfolgt, versklavt und ermordet hatte, sich dank der Hinterlassenschaften der NS-Zwangsarbeit, dank Marshall-Plan und European Rescue Program innerhalb weniger Jahren wieder wirtschaftlicher Prosperität erfreute, fristeten viele Überlebende der Zwangsarbeit jahrzehntelang ein Leben am Existenzminimum und litten (oder leben) bis zu ihrem Tod an den physischen und psychischen Folgen ihres Zwangsaufenthalts in Deutschland.
Wir wollen ihrer und aller anderer Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sowie aller Verfolgten und Opfer der nationalsozialistischen Barbarei mit dieser Kranzniederlegung gedenken und ihr Andenken bewahren.