Tag der Befreiung: Bericht und Rede der VVN-BdA Heidelberg
8. Mai 2021
Am 8. Mai 2021 hatte bereits um 12 Uhr eine Veranstaltung der VVN-BdA Mannheim auf dem dortigen Schillerplatz stattgefunden, bei der mehrere Reden und Grußworte – darunter auch von der VVN-BdA Heidelberg – von Kulturbeiträgen umrahmt waren. Einen Bericht und Videomitschnitt gibt es unter https://mannheim.vvn-bda.de/beitrage/.
Ab 16 Uhr schloss sich eine Demonstration in Heidelberg an, und weit über 200 Menschen versammelten sich am 8. Mai 2021 an der Stadtbücherei Heidelberg, um unter dem Motto „Tag der Befreiung: 8. Mai muss Feiertag werden!“ auf die Straße zu gehen. Zu der Demonstration, die von der VVN-BdA Heidelberg organisiert worden war, hatten Gewerkschaften, Parteigruppierungen, zivilgesellschaftliche Organisationen und antifaschistische Gruppen aufgerufen.
Zu Beginn der Auftaktkundgebung machte Silke von der VVN-BdA Heidelberg auf die historische Bedeutung der heutigen Grünanlage an der Stadtbücherei aufmerksam: Hier stand bis in die 1950er Jahre der Heidelberger Hauptbahnhof. Es dauerte Jahrzehnte, bis ein Denkmal für die von hier nach Gurs deportierten jüdischen HeidelbergerInnen errichtet wurde. Mit einem langen Zitat aus dem Offenen Brief der Auschwitz-Überlebenden Esther Bejarano stellte sie die Forderung in den Mittelpunkt, den 8. Mai zum Feiertag zu machen.
In der zweiten Rede wies Jogi vom Friedensbündnis Heidelberg auf den 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion hin – ein blinder Fleck im hiesigen Geschichtsbewusstsein, an den kaum mit offiziellen Gedenkveranstaltungen erinnert werde. Statt eines Gedenkens an die von den Nazis ermordeten SowjetbürgerInnen setze die BRD auf Aufrüstung und militärische Drohgebärden gegen Russland.
Ein Vertreter von die linke.SDS Heidelberg thematisierte die braunen Verstrickungen der Heidelberger Universität in der NS-Zeit, die ebenfalls nur mangelhaft aufgearbeitet würden. Beispielsweise gebe es bis heute keine Tafel am Germanistischen Seminar, die auf die Geschichte des Hauses als Sitz der Heidelberger Gestapo aufmerksam mache.
Von der Stadtbücherei setzte sich die Demonstration über die Kurfürstenanlage in Bewegung, um am Adenauerplatz eine Zwischenkundgebung vor der Deutschen Bank abzuhalten – nicht ohne den Hinweis auf die dunkle Geschichte des Kreditinstituts in der NS-Zeit. In einem kurzen Grußwort schilderte Joachim von der VVN-BdA Mannheim die Befreiung anhand persönlicher Einzelerfahrungen am Beispiel seines Onkels, seines Großvaters und der Auschwitz-Überlebenden Esther Bejarano.
Mia von der Seebrücke Heidelberg beschrieb die unmenschliche Asylpolitik der europäischen und außereuropäischen Staaten ab 1933, die den aus Nazi-Deutschland Flüchtenden die Einreise verwehrten und so Millionen die Rettung verweigerten. Die daraus gezogene Lehre, das umfassende Asylrecht, sei inzwischen faktisch abgeschafft, und erneut verschließe die „Festung Europa“ ihre Grenzen vor Menschen, die den lebensbedrohlichen Umständen ihrer Herkunftsländer zu entkommen versuchten.
Ein Redner des Offenen Antifaschistischen Treffens Mannheim machte auf die Kontinuitäten des Faschismus und die aktuellen Nazi-Umtriebe aufmerksam und forderte dazu auf, dem mit entschlossenem Antifaschismus entgegenzutreten.
Über die Sofienstraße und die Theodor-Heuss-Brücke ging die Demonstration zur Neckarwiese, wo die Abschlusskundgebung stattfand. Zwei Vertreter*innen der Interventionistischen Linke Rhein-Neckar riefen dazu auf, die rechten Netzwerke in den Sicherheitsbehörden vollständig aufzudecken und diese Nazi-Strukturen zu bekämpfen, anstatt sie als „Einzelfälle“ zu verharmlosen. Nicht nur nach 1945 sei die Entnazifizierung der Behörden verpasst worden – sie sei auch heute dringend vonnöten, weshalb die Kampagne „Entnazifizierung jetzt!“ ins Leben gerufen worden sei.
Es folgte eine Rede von Zara von der Partei Die Linke Heidelberg, die auf die Umtriebe der rechten Parteien, insbesondere der AfD, in den Parlamenten hinwies, die mit ihren unsäglichen rassistischen und geschichtsrevisionistischen Parolen faschistisches Gedankengut wieder salonfähig zu machen versuchten und den Diskurs nach rechts drückten.
Abschließend gab ein Redner der Antifaschistischen Initiative Heidelberg/Interventionistische Linke einen Überblick über die Nachkriegsgeschichte, die aus systematischer Täter-Opfer-Umkehr, der Verharmlosung der Nazi-Verbrechen und der Duldung von faschistischen Strukturen bestehe. Anstatt auf die rechten Umtriebe in Geheimdiensten, Militär und Polizei mit der sofortigen Auflösung dieser Behörden zu reagieren, würden sie ausgebaut und aufgerüstet. Er schloss mit der Forderung, den 8. Mai umgehend zum Feiertag zu machen – doch zugleich müsse der Tag ein Kampftag gegen den Faschismus sein.
Kurz nach 18 Uhr wurde die Demonstration aufgelöst.
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Redebeitrag der VVN-BdA Heidelberg auf der Demonstration am 8. Mai 2021:
Liebe Kameradinnen und Kameraden, liebe Genossinnen und Genossen, liebe Freundinnen und Freunde,
wir feiern heute den 76. Jahrestag der Befreiung vom NS-Faschismus. In Deutschland empfanden vor allem die Überlebenden der Shoah, der Konzentrationslager und Zuchthäuser sowie ihre Angehörigen und die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter den 8. Mai 1945 als den lang ersehnten Tag der Befreiung.
Aber auch wir, die wir heute leben, verdanken die Chance eines Lebens in Frieden, Freiheit und Vielfalt den alliierten Truppen, unter denen die Rote Armee mit Abstand die größte Last des Krieges in Europa zu tragen hatte. Den alliierten Befreierinnen und Befreiern, den Partisaninnen und Partisanen, den Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfern gebührt unser größter Dank.
Doch der 8. Mai ist nicht nur ein Tag der Freude und der Feier. Wir müssen zugleich an jene Millionen Menschen erinnern, die von den Nazis ermordet wurden.
An all jene Antifaschistinnen und Antifaschisten, die im Kampf gegen den NS-Terror ihr Leben ließen, aber auch an all jene, die als Jüdinnen und Juden, als Sintizze und Sinti, als Romnja und Roma in den faschistischen Mordfabriken getötet wurden.
An all jene, die von den Nazis als „lebensunwert“ oder „asozial“ klassifiziert und ermordet wurden.
An die Millionen Zivilistinnen und Zivilisten in den von der faschistischen Wehrmacht überfallenen Ländern, insbesondere in der Sowjetunion, die von den Nazis massakriert wurden, die in Zwangsarbeit verschleppt und dort zu Tode geschunden wurden.
Wir stehen hier an einem Ort, der in Heidelberg eine zentrale Funktion im Mordprogramm der Nazis hatte. An dieser Stelle stand bis in die 1950er Jahre der Heidelberger Hauptbahnhof, von dem die Deportationszüge der Shoah abfuhren. Jahrzehntelang erinnerte kein Schild, keine Tafel daran, dass von hier aus allein bei der Großdeportation am 22. Oktober 1940 299 jüdische Menschen aus Heidelberg ins französische Konzentrationslager Gurs verschleppt wurden. Wer den Hunger, die Seuchen und die Kälte in Gurs und den französischen Folgelagern überlebte, wurde großteils in den Vernichtungslagern im Osten ermordet. Nur 70 der am 22. Oktober 1940 aus Heidelberg Deportierten überlebten die Shoah.
Erst 2014 wurde das hiesige Denkmal errichtet, das sich am früheren Gleis 1, dem Abfahrtspunkt des Deportationszugs im Oktober 1940, befindet.
Und am hiesigen Bahnhof begann auch für viele andere Verfolgte der Weg in die Konzentrations- und Vernichtungslager der Nazis.
Wenn wir den heutigen Tag als Tag der Befreiung feiern, müssen wir auch derer gedenken, die ihn nicht erleben durften, die dem NS-Terror, der Mordmaschinerie, den Massakern, den mörderischen Lebensbedingungen in den Lagern zum Opfer gefallen waren.
Der 8. Mai war für die Überlebenden des NS-Terrors die „Morgenröte der Menschheit“, wie es der jüdische Résistancekämpfer Peter Gingold formulierte. In nahezu allen von NS-Deutschland besetzten Ländern wurden der 8. und/oder 9. Mai gesetzliche Feiertage. 40 Jahre hat es gedauert, bis ein Präsident der Bundesrepublik den 8. Mai als Tag der Befreiung anerkannt und gewürdigt hat.
Bis dahin hatte die Sicht der Nazis, der Profiteur*innen, Mitläufer*innen und Zuschauer*innen das offizielle Vokabular geprägt: Zusammenbruch, Kapitulation, Niederlage, Besatzung, Stunde Null, Neubeginn.
Mit Richard von Weizsäckers Rede wurde die Perspektive der Verfolgten des Naziregimes „gesellschaftsfähig“. Ein offizieller Tag der Erinnerung und Mahnung – ein Tag gegen Faschismus und Krieg – wurde der 8. Mai jedoch in der Bundesrepublik bis heute nicht.
Wir fordern, dass der 8. Mai als Tag der Befreiung von Faschismus und Krieg endlich in ganz Deutschland ein offizieller Gedenktag wird, um dieses Ereignis zu feiern. Der 8. Mai soll ein Tag gegen Rassismus, Antisemitismus, Ausgrenzung und Diskriminierung jeglicher Form werden.
Bereits am 8. Mai 2020 – zum 75. Jahrestag der Befreiung – wurden dem Bundestag 100.000 Unterschriften übergeben, die die Forderung unterstützen, den 8. Mai zu einem bundesweiten gesetzlichen Feiertag zu machen. Von vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen erhält die Forderung Zuspruch. So unterstützen beispielsweise der DGB, migrantische Organisationen, Gedenkstätten und Gliederungen verschiedener Parteien diese Forderung.
Und mit der heutigen gemeinsamen Demonstration wollen wir diese Forderung lautstark auf die Straße tragen.
Wir erinnern am 8. Mai an die Hoffnung der Befreiten auf eine Welt ohne Kriege, Elend und Unterdrückung und treten ein für eine neue Welt des Friedens und der Freiheit, wie es die befreiten Häftlinge des KZ Buchenwald geschworen haben:
„Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel. Das sind wir unseren gemordeten Kameraden und ihren Angehörigen schuldig.“
Der Kampf gegen Faschismus und Krieg ist unsere Verpflichtung und muss eine Selbstverständlichkeit für jeden Menschen sein. Ich möchte dazu aus dem Offenen Brief der Auschwitz-Überlebenden und Ehrenvorsitzenden der VVN-BdA Esther Bejarano zitieren. Sie forderte zum 8. Mai 2020, den 8. Mai zum Feiertag zu erklären:
„Wo stehen wir – dieses Land, diese Gesellschaft – 75 Jahre nach der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee?
Plötzlich gab es keine Nazis mehr, damals, 1945 – alle waren verschwunden. Uns aber hat Auschwitz nicht verlassen. Die Gesichter der Todgeweihten, die in die Gaskammern getrieben wurden, die Gerüche blieben, die Bilder, immer den Tod vor Augen, die Albträume in den Nächten.
Wir haben das große Schweigen nach 1945 erlebt – und wie das Unrecht – das mörderische NS-Unrecht – so akzeptiert wurde. Dann erlebten wir, wie Nazi-Verbrecher davonkommen konnten – als Richter, Lehrer, Beamte im Staatsapparat und in der Regierung Adenauer. Wir lernten schnell: die Nazis waren gar nicht weg. (…)
Inzwischen wird vom Erinnern und Gedenken als einer Gedenkkultur gesprochen. Wir spüren, wie tief viele Menschen bewegt sind, manche haben sich das ‚Nie wieder‘ zur Lebensaufgabe gemacht.
Sonntagsreden, die Betroffenheit zeigen, reichen aber nicht. Diese Betroffenheit muss zum Handeln führen, es muss gefragt werden, wie es so weit hat kommen können. Es muss gestritten werden für eine andere, bessere Gesellschaft ohne Diskriminierung, Verfolgung, Antisemitismus, Antiziganismus, ohne Ausländerhass! Nicht nur an Gedenktagen! (…)
Es ist für uns Überlebende unerträglich, wenn heute wieder Naziparolen gebrüllt werden, wenn Menschen durch die Straßen gejagt und bedroht werden, wenn Todeslisten kursieren. Wir wollen uns nicht gewöhnen an Meldungen über antisemitische, rassistische und menschenfeindliche Attacken in Berlin und anderswo, in Halle, wo nur stabile Türen die jüdische Gemeinde schützten, aber zwei Menschen ermordet wurden.
Was können wir tun?
Ich will, dass wir alle aufstehen, wenn Jüdinnen und Juden, wenn Roma oder Sinti, wenn Geflüchtete, wenn Menschen rassistisch beleidigt oder angegriffen werden!
Ich will, dass ein lautes ‚Nein‘ gesagt wird zu Kriegen, zum Waffenhandel. Wer den letzten Krieg vergisst, der bereitet schon den nächsten vor.
Ich will, dass wir gegen die Ausbeutung der Menschen und unseres Planeten kämpfen, Hilfesuchende solidarisch unterstützen und Geflüchtete aus Seenot retten. Eine Gesellschaft muss sich messen lassen an ihrem Umgang mit den Schwächsten.
Ich fordere entschlossenes Handeln gegen das Treiben der Neonazis, denn trotz Grundgesetz und alledem konnten Abgeordnete einer neurechten Partei vom NS als ‚Vogelschiss in deutscher Geschichte‘ und vom Holocaust-Gedenkort in Berlin als ‚Denkmal der Schande‘ sprechen, konnte der NSU ein Jahrzehnt lang ungestört morden und die Neonazi-Gruppe ‚Combat 18‘ frei agieren.
Ich fordere, dass die Diffamierung von Menschen und Organisationen aufhört, die entschlossen gegen rechts handeln. (…) Niemand sollte für antifaschistisches Handeln, für gemeinsame Aktionen gegen den Hass, gegen alte und neue Nazis diskreditiert und verfolgt werden!
Ich fordere: Der 8. Mai muss ein Feiertag werden! Ein Tag, an dem die Befreiung der Menschheit vom NS-Regime gefeiert werden kann. Das ist überfällig seit sieben Jahrzehnten. Und hilft vielleicht, endlich zu begreifen, dass der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung war, der Niederschlagung des NS-Regimes. Wie viele andere aus den Konzentrationslagern wurde auch ich auf den Todesmarsch getrieben. Erst Anfang Mai wurden wir von amerikanischen und russischen Soldaten befreit.
Am 8. Mai wäre dann Gelegenheit, über die großen Hoffnungen der Menschheit nachzudenken: Über Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – und Schwesterlichkeit.“
Diesem Offenen Brief der Auschwitz-Überlebenden Esther Bejarano schließen wir uns in allen Punkten an.
Nie wieder Faschismus – nie wieder Krieg!