Redebeitrag am 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion

29. Juni 2021

Bei der Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion gab es neben einem vielfältigen kulturellen Rahmenprogramm verschiedene Redebeiträge, die sich mit verschiedenen Aspekten des faschistischen Vernichtungskriegs befassten. Die meisten Texte sind auf https://www.friedensbuendnis-heidelberg.de/ dokumentiert. Die Rede der VVN-BdA Heidelberg widmete sich den Auswirkungen auf den antifaschistischen Widerstand, insbesondere in Bezug auf die regionale Vorbote-Gruppe:

Liebe Kameradinnen und Kameraden, liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter, liebe Freundinnen und Freunde,

der Überfall der Nazi-Wehrmacht auf die Sowjetunion und der systematische Vernichtungskrieg bedeuteten für den antifaschistischen Widerstand und insbesondere für die illegale Kommunistische Partei eine grundlegende Zäsur.

Zuvor hatten viele Gruppen mit Krisen zu kämpfen: Die langen Jahre des brutalen NS-Terrors, zehntausende von Verhaftungen überzeugter NazigegnerInnen, die zahllosen NS-Morde an WiderstandskämpferInnen, die Verschleppung in die KZs und die Verurteilung zu hohen Haftstrafen hatten die Widerstandsgruppen im Lauf der 1930er Jahre ausgedünnt, und bei vielen hatten sich Entmutigung und Angst breitgemacht. Gerade in der illegalen KPD hatte zudem der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt für aufreibende und ermüdende Diskussionen nicht nur mit anderen Spektren, sondern auch innerhalb der Partei gesorgt.

Diese Phase wurde durch den Überfall der Nazis auf die Sowjetunion abrupt beendet, und der faschistische Vernichtungskrieg gegen die Sowjetbevölkerung mobilisierte die sozialistischen und kommunistischen Widerstandsstrukturen zu neuen Aktivitäten. In vielen Städten sammelten sich die verbliebenen Zellen wieder, neue Gruppen entstanden, und manche versuchten in den folgenden Jahren auch, im direkten Austausch mit den sowjetischen ZwangsarbeiterInnen antifaschistisch aktiv zu werden. Die Vernetzung mit den SowjetbürgerInnen, die unter mörderischen Bedingungen in Industrie und Landwirtschaft schuften mussten, beschränkten sich nicht auf kleine Gesten der Alltagssolidarität wie Lebensmittelspenden. Oftmals bildeten sich auch gemeinsame Diskussionskreise und Widerstandsgruppen wie beispielsweise die „Speyerer Kameradschaft“ um Jakob und Emma Schultheis. An diesem antifaschistischen Netzwerk waren außer AktivistInnen aus Speyer auch viele polnische und sowjetische ZwangsarbeiterInnen beteiligt.

Auch hier in der Region machte sich diese Entwicklung bemerkbar. Die kommunistische Vorbote-Gruppe um den früheren KPD-Abgeordneten Georg Lechleiter steht beispielhaft für den neuen Aufschwung des antifaschistischen Widerstands ab Sommer 1941 und ist hier ganz explizit an den Beginn des faschistischen Vernichtungsfeldzugs gegen die Sowjetunion gekoppelt.

Schon 1940 hatten sich verschiedene antifaschistische Zellen und AktivistInnen aus dem Raum Mannheim wieder verstärkt miteinander vernetzt, doch der Schwerpunkt lag zunächst auf der Sammlung von Rote-Hilfe-Geldern zur Unterstützung der verhafteten GenossInnen und ihrer Familien.

Der Überfall auf die Sowjetunion leitete eine Phase neuer Widerstandsarbeit ein. Noch am 22. Juni 1941 fand das zentrale Treffen mit Georg Lechleiter, Jakob Faulhaber und Gustav Süß zunächst auf der Heidelberger Neckarwiese und danach in der Wohnung des Ehepaars Käthe und Alfred Seitz in Rohrbach statt. Hier wurde vereinbart, wieder eine stärker koordinierte Widerstandsorganisation aufzubauen und vor allem, eine illegale Zeitung unter dem Namen „Der Vorbote“ herauszubringen.

An der Erstellung und Verteilung der illegalen Druckschrift, die nur an vertrauenswürdige GenossInnen weitergegeben wurde, waren Dutzende von AntifaschistInnen beteiligt. Käthe Seitz fiel die zentrale Rolle zu, die Texte zu korrigieren und auf Matrizen abzutippen, wobei sie von ihrem Mann Alfred unterstützt wurde. Auch ihr Vater Philipp Brunnemer wirkte aktiv mit, indem er den Abzugsapparat in seinem Haus in der Mannheimer Gartenstadt verwahrte und bei der Vervielfältigung half.

Sowohl Käthe und Alfred Seitz als auch ihr Vater hatten früher der Sozialdemokratie angehört. Daran zeigt sich, dass nicht nur WiderstandskämpferInnen aus verschiedenen Städten sich aktiv beteiligten, sondern dass auch AntifaschistInnen jenseits der KPD durch den faschistischen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion zu neuem illegalen Engagement motiviert wurden und sich der von der KPD getragenen Vorbote-Gruppe anschlossen.

Im Herbst und Winter 1941 erschienen vier Ausgaben des „Vorboten“, die weit über Mannheim hinaus Verbreitung fanden. In den Artikeln wurden hauptsächlich die militärischen Entwicklungen mithilfe ausländischer Nachrichten analysiert und die wirtschaftliche Situation dargestellt. Einzelne Beiträge beschäftigten sich auch mit konspirativem Verhalten und organisatorischen Überlegungen zum Widerstand, andere wandten sich gegen Tendenzen der Entmutigung.

Immer wieder stellten die Texte auch die falschen Erfolgsmeldungen der NS-Kriegspropaganda richtig und wiesen auf den engagierten Verteidigungskampf der Roten Armee hin. In der ersten Ausgabe des „Vorboten“ hatte die Gruppe noch die Hoffnung auf eine schnelle Zerschlagung des NS-Faschismus geäußert. Im Leitartikel „An der Schwelle des 3. Kriegsjahres“ heißt es:

„Seit dem 22. Juni steht der hinterhältige Überfall des deutschen Imperialismus auf die Sowjetunion im Vordergrund des politischen Geschehens. Mit dem Aufmarsch gegen Sowjetrußland hat ein Abschnitt in dem zweiten imperialistischen Krieg begonnen, der zweifellos das Ende des Dritten Reiches einleiten und die Beseitigung der Naziherrschaft beschleunigen wird.“

So der Artikel im „Vorboten“ von September 1941.

Die Gruppe verstand die illegale Druckschrift als ersten Schritt zum Aufbau einer breiten antifaschistischen Bewegung gegen den Krieg, wie ein weiterer Artikel dieser Ausgabe beschreibt:

„Mit der Herausgabe dieser Zeitung hoffen wir, unseren Genossen die ihnen gestellten Aufgaben zu erleichtern und ihnen neue Waffen zu geben, die sie befähigen werden, sich als Vorboten einer neuen Zeit den Weg zu bahnen zu den Arbeitermassen, damit diese kühn und entschlossen für ihre geschichtliche Aufgabe gesammelt werden können unter Führung der Kommunistischen Partei.“

Aus den Texten spricht ein neuer Optimismus, das Bewusstsein, der angegriffenen Sowjetunion durch den Widerstandskampf hinter den Nazi-Reihen zu Hilfe zu eilen und die Verteidigungskämpfe der Roten Armee auf diese Art zu unterstützen, um so die Befreiung vom NS-Faschismus zu beschleunigen.

Doch die meisten AktivistInnen der Vorbote-Gruppe sollten die militärischen Erfolge der Roten Armee und den Tag der Befreiung nicht mehr erleben: Anfang 1942 kam die Gestapo der Gruppe auf die Spur. Am 26. Februar 1942, während der Produktion der 5. Ausgabe, setzten die Massenverhaftungen ein.

Nur wenige Wochen später, am 14./15. Mai 1942, fand vor dem berüchtigten Volksgerichtshof ein erster Prozess gegen 14 AntifaschistInnen statt, darunter gegen Georg Lechleiter, Käthe Seitz, ihren Mann Alfred sowie ihren Vater Philipp Brunnemer. Alle 14 Angeklagten wurden zum Tode verurteilt und am 15. September 1942 hingerichtet.

Am 21. Oktober 1942 begann der Prozess gegen die zweite größere Gruppe der Angeklagten, unter denen sich auch der Kirchheimer Kommunist Albert Fritz befand. Der Prozess fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, nachdem die erste Gruppe im Gerichtssaal ihre Standhaftigkeit bewiesen und sich selbstbewusst zu ihrer politischen Überzeugung bekannt hatte. Albert Fritz und vier weitere GenossInnen wurden am 22. Oktober 1942 zum Tode verurteilt und am 24. Februar 1943 hingerichtet; die übrigen Angeklagten erhielten hohe Haftstrafen.

Nach den Hinrichtungen wurden die Leichen nicht zur Bestattung freigegeben, sondern den Anatomischen Instituten verschiedener südwestdeutscher Universitäten, unter anderem in Heidelberg, für Sezierübungen übergeben. Auch nach der Befreiung war ein mehrjähriger Kampf nötig, bis die Universität Heidelberg die sterblichen Überreste den überlebenden Angehörigen aushändigte.

Doch obwohl der NS-Terror diesen mutigen antifaschistischen Kampf auszulöschen versucht hat, ist es nicht gelungen. Bis heute erinnert eine Gedenkstätte auf dem Bergfriedhof an die ermordeten WiderstandskämpferInnen, und jedes Jahr finden am 15. September in Mannheim und am 1. November in Heidelberg Gedenkveranstaltungen für die AntifaschistInnen statt, die ihren Kampf gegen Faschismus und Krieg, ihre Solidarität mit der überfallenen Sowjetunion mit dem Leben bezahlten.